WOHIN DEUTSCHLAND?


Der Verrat am deutschen Idealismus

António Justo

Die Geschehnisse vom 9. November 89, die eine Chance für eine geistige Erneuerung darstellen, werden einseitig umgeleitet in Chancen für Wirtschaftlichen Profit. Deutschland verleugnet seine eigene geistige, idealistische Tradition, die auf dem Gedankengut Lessings, Goethe, usw. beruht. Die Krise des Kommunismus und Kapitalismus könnte neue Wege offnen. Ziel wäre eine Synthese. Eine Gesellschaft ohne Utopien und eine Politik ohne Moral entwickeln sich nicht mehr.


Die Verbindung des männlichen und weiblichen Elements

Am 9. November die Mauer fällt. Die Ereignisse in Berlin ähneln einer Hochzeitsfeier, bei der sich Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit verbinden. Die Feier hatte kaum begonnen, da hörte man schon laute Stimmen von Berauschten, die im alten Stil die Szene beherrschten: „Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus“, „Jesus lebt, Marx ist tot“, „Deutschland Deutschland“, „Westmark ist Freiheit“.


Das Geschehen ist nicht mehr die Sache der Brautleute, jetzt ist die Stunde der Hochzeitshändler, und diese sind interessiert an einer Bindung im alten Stil, wo der Man (Westen) der Herr ist und die Frau (Osten) eben das „Weib“ sein soll, Gegensätze anstatt Komplementarität.


Schlechter noch: sie wird entkleidet und zu Prostituierten gemacht, was sie akzeptiert ohne ihren Wert zu erkennen. Der gemeinsame Tempel wir entweiht und ähnelt einer Markthalle, in der die Profis des Marktes die Gunst der Stunde nutzen.


Materialistische Ausnutzung


Das Vakuum in der DDR wird eilig zugunsten parteipolitischer Interessen gebraucht, wobei der Verfassungsnationalismus als Fahrzeug benutzt wird, such wenn dies die Deutsche Einheit beeinträchtigt. Die notwendige konzentrierte Aktion aller Kräfte in der BRD wird von den Parteien abgelehnt, die ausschließlich materielle Probleme thematisieren. Sie zeigen einen Widerspruch zwischen Einigungsstreben und Handlungsstrategien. Parteipolitische Interessen überwiegen, so dass eine Maklerpolitik, die sich nur um das Geschäft und nicht um das Ganze kümmert, eingetreten ist und Ängste schürt.


Die gelähmte „Mittelschicht“ der DDR fühlt sich in einem ungleichen Wettbewerb mit dem Westen und spricht von Ausverkauf der DDR. Die EG hat Angst, einen ungezügelten Riesen an ihren Tisch zu bekommen; die USA möchte nicht ihre Vormachtstellung in der Welt zugunsten Europas abgeben und spricht mit den Siegermächten von der Destabilisierung Europas. Die Sowjetunion sieht im Hause Europas ihre Chance; die BRD stellt sich die Frage, wer die Karre Europas ziehen wird (Deutschland oder die Sowjetunion) und vertraut auf die Stärke und Anziehungskraft de D-Mark.


Dregger geht weiter: „Wie sind das Volk und das Land in der Mitte Europas“ und knüpft  an die Bismarck’sche und Wilhelminische Tradition an, womit er die Treue zur Verfassung, was die Grenzen Deutschlands vor 1937 betrifft, nicht nur den Republikanern und Co. Überlassen will.


Viele Ausländer, die hier wie dort gemeinsam mit Deutschen auf die Strasse gingen mit der Forderung nach Freiheit und um mitzufeiern, bekommen langsam kalte Füße, weil da Zusammenwachsen beider Staaten zu einer Nation ohne die Ausländer geschehen soll. Sie spüren schon mehr Ungeduld ihnen gegenüber (trotz der traditionellen Gleichgültigkeit) in der deutschen Bevölkerung und auf Staatsebene beim Entwurf für das Ausländergesetz, das in nationalistischer Abwehr konzipiert wird.  Die Verdrängung der Ausländer/innen ist schön spürbar. Was dann, wenn die Lohnabhängigen den Preis für die Vereinigung bezahlen müssen! Besorgniserregend ist das ausländerfeindliche Potential der DDR und der Gettobildung von Ausländern.


Viele Ausländer/innen und viele andere Kräfte haben mit der Überwindung der Trennung Deutschlands die Überwindung de inneren Mauern zwischen Deutschen und nicht Deutsche, und zwischen Ausländer und Ausländer erhofft, ebenso wie die Überwindung der Teilung Europas und der Welt. Die Politik aber setzt auf „Teile um zu herrschen“.


Geistige Tradition Deutschlands


Mit den deutschen Geschehnissen gäbe es die Chance, neue Impulse und alternativen für die Weltpolitik zu schaffen, die in einem positiven Sinn den Deutschen Stempel (Anknüpfung an die alte deutsche Kultur, deutsche Idealismus) tragen könnte.


Immer mehr zeigt sich die Hervorhebung des Materialismus und die Unterdrückung des Idealismus – letzterer ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Kultur – weil versucht wird, das Recht aus der äußerlichen Stärke und den Besitz abzuleiten, und damit wird die Kraft des Geistes verdrängt. Die Chance für eine neue Gesellschaft wird nicht wahrgenommen, weil nur die männlichen Werte zur Geltung kommen; ich würde sagen, gerade die Werte, die nicht eindeutig deutsch waren. Was wir vorfinden, ist die Zuspitzung des römischen Dogmatismus und Formalismus, des franzosischen Rationalismus und Sekularismus (Skeptizismus) und des englischen Pragmatismus. Vergessen wird gerade, was die deutsche Aufklärung vom Leibnitz, Lessing, Goethe, Schiller, Hegel, Heidegger, und Nietzsche für die Welt bedeutet hat, nämlich einen Versuch, ein höhere Synthese von Griechentum und Christentum zu schaffen, der eine Art Weltbürgertum als Ziel hat. (Vgl. mystisches Christentum, Trinität, Trialog statt Dialog…). Verrat an Deutschland!


Die Einheit Deutschlands soll nicht auf kosten ihres freien Menschentums geschehen, warnt uns Goethe, wen er sagt: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche vergebens; bildet, ihr könntet es, dafür freier zu Menschen euch aus“.


Synthese von Sozialismus und Kapitalismus



Die Novemberrevolution wird das nächste Jahrhundert bestimmen, das das Jahrhundert Europas sein wird. Das neue Zeitalter, in dem die Welt zusammenrückt, kann keine Ära des Nationalismus und der reinen Ideologien werden.


Der  Osten kapituliert, der Westen krankt an Ideologien und Ethik und bietet wenig Zukunftsperspektiven (Armut, Ökologie, kein Recht auf arbeit, Sinnlosigkeit), es fehlt an geistige Anziehungskraft: unsere Philosophie versinkt zu Agnostizismus und Materialismus, Religiosität kehrt sich um in Götzendienerei; die persönliche Moral wird von Egoismus bestimmt und die soziale Moral von Interessen Gruppen diktiert.


Was bleibt? Die Praxis als Orientierung?!…  hier wie dort mangelt es an der Realisierung hoher Ideen. Es mangelt an ein geistiges Dach. Der Sozialismus zeigte sich als Kind des Christentums in ihren Ursprung und Schicksal. Wie das Christentum scheint der Sozialismus nur als Idee existiere zu können, nicht als Praxis. Man konnte zusammenfassend sagen: die „SED“ verhält sich zum Kommunismus wie die CDU/CSU zum Christentum. Sie nutzen sie aus, und dadurch schaffen sie Enttäuschung und Verneinung des eigenen Selbstverständnisses.


Im Moment bewegt sich viel an der Oberfläche, das Rad einer echten Entwicklung steht aber still. Werte wie Freiheit werden als Glaube (abstrakte Gedanke) dargestellt und somit als reine wirtschaftliche und Marktfreiheit begriffen. Es wird vergessen, dass sich die Freiheit aus einem Leben der Erkenntnis ergibt. Eine neue Weltpolitik soll von Freiheit des Glaubens zur Freiheit der Gesinnung und Verantwortung in der Tat kommen.


In der Krise von Ost und West liegt viel Hoffnung und viele Chancen für die Entwicklung der Menschheit.


Dafür brauchen wir eine höhere Synthese von Kapitalismus und Sozialismus, besser gesagt, von „Östlichem“ und „Westlichem“. Dafür benötigen wir einen universellen Geist, eine ganzheitliche (übernationale) Gesinnung, die ihre Ansätze im Geist des deutschen Idealismus finden könnte.


Zwar hatte Deutschland bis Mitte des 19. Jahrhunderts einen geistig hohen Rang in der Welt, als die Identität und das Selbstverständnis dieser Kultur noch nicht von der Triebkraft des Blutes und des Bodens abgeleitet wurde.


In der heutigen Diskussion scheint man die Kraft vom Mythos des Goldenen Westens herzuleiten. Vergessen  wird dabei die eigene Tradition. Deutschland scheint weiterhin gefesselt bleiben zu wollen…


António da Cunha Duarte Justo

Ehemalige Chefredakteur von Gemeinsam

In GEMEINSAM, Zeitschrift des Ausländerbeirats der Stadt Kassel, Nr. 6, März 1990

https://antonio-justo.eu/

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António da Cunha Duarte Justo

Actividades jornalísticas em foque: análise social, ética, política e religiosa

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